do it as perfect as possible
Ah, but I was so much older then, I’m younger than that now.
Bob Dylan
Es war keine Schallplatte, womit sie da hantierte.
Es war eine zarte Seele in einer Glasflasche.
Haruki Murakami
Der Code entscheidet. Von ihm allein hängt ab, wer einander erkennt und wer nicht, wer Zugang zur Gruppe erhält oder wer außen vor bleibt. Bevor es zur Begegnung kommt, fällt die Entscheidung in Sekunden: Dress, Styling, Make-up, Accessoires, Tattoo, Frisur, Mimik. Im Spiel der Zeichen bilden sie die Basisinformation, die erst im semantischen Gefüge eine verlässliche Plattform bildet, um das Gegenüber als möglicherweise geeignete Kontaktperson verlässlich einordnen zu können. Hierbei ähnelt der Vorgang des visuellen Erkennens einem systematischen Prozess des Scannens, bei dem die einzelnen Merkmale zuerst jeweils sondiert und dann – dem selektiven Erfassen von Photographien auf Fahndungsplakaten vergleichbar – wieder zusammengesetzt werden. Die Frage, die diesem Dekodierungsprozess zugrunde liegt, ist so einfach wie komplex, so oberflächlich wie existentiell: „Wer bin ich im Verhältnis zu den anderen, wer sind die anderen im Verhältnis zu mir?“
Identität finden. Man mag in jenem vielfach verwendeten, missbrauchten und überstrapazierten Theorem auch heute noch den eigentlichen Motor ausmachen, der den Menschen der Moderne antreibt. Sein Brennspiegel heißt bekanntermaßen Jugend. In seinem Essay „Aussichtslose Unabhängigkeiten“ verweist der Kunsthistoriker Oliver Zybok darauf, dass das Konzept der Identität mehr denn je mit demjenigen der Alterität verbunden sei. Es geht schließlich um nichts Geringeres als um Abgrenzung, Rollenzugehörigkeit und Selbstfindung. Daher stelle das Konzept der Identität, um das in Jugendjahren mühsam gerungen werde, eine soziale Realität dar, so Zybok, die durch die Erfahrung und Interaktion der Individuen kontinuierlich produziert werde. „Identität ist offenbar beides zugleich, antizipierte Erwartungen der anderen und Begehren des Individuums.“ George Herbert Mead, der amerikanische Sozialphilosoph, hat daraus schon früh einen Begriff des Selbst abgeleitet, der dem hochambivalenten Impuls Rechnung trägt. Er unterscheidet zwischen einem me, worunter die von anderen übernommenen Einstellungen und Erwartungen fallen, und einem I, das die individuellen Antworten und Reaktionen auf die Erwartungen der anderen bereithält. Jugend bedeutet nicht weniger, als sich im Spannungsfeld von me und I zu positionieren.
J-Subs
Ein Bild von Keiko. Ihr Blick gleitet am Betrachter bewusst vorbei mit dem wohl kalkulierten Effekt, dass sie eindringlich angesehen werden kann. Unmerklich beginnt in der Anschauung der Prozess des Scannens, um die zahlreichen Versatzstücke von Maskierung, Pose und Person ausfindig zu machen. Dunkelbraune Mandelaugen, türkisfarbener Lidstrich, ein selbstbewusst rot gezogener Lippenstift, der sorgsam abgestimmt wurde mit einer Haarschleife, die wiederum den hoch eingeschlagenen verdeckten Pferdeschwanz krönt. Virtuos balanciert die Farbikonographie zwischen künstlicher Blondierung und glänzendem Rot-Ton, zwischen Coolness und Eros, zwischen Erwartung und Begehren. Ein dreieckig abgeteilter Ponyschnitt fällt nach vorne zur Stirn ab und wird unterfangen von leicht gezupften Augenbrauen, deren Striche sich seitlich sanft verjüngen. Auch das Dress zollt der Inszenierung des Selbst Tribut. Ein v-förmig geöffnetes Blouson mit weit ausladenden Kragen gibt in nuce ein leopardenfellartiges Shirt frei. Schließlich verzieren silbern anmutende Halskettchen einen Notenschlüssel aus Plastik und zwei Spielwürfel. Sie zeigen auf der Oberseite jeweils eine Fünf. Mit der Folge, dass der Code plötzlich ins Leere greift. Kann es sein, dass die Zahlen eine tiefere Bedeutung haben? Weshalb liegt der Notenschlüssel spiegelverkehrt auf ihrer Brust? Und was impliziert ein Farbtattoo an ihrem linken Ohr, das zwei Kirschen zeigt?
Ein Bild von Keiko. Mit ihr verliert sich die analysierende Betrachtung in ein Decodierungsmuster, das mehr Fragen als Antworten bereithält. Einmal mehr gilt zwar: „Wer bin ich im Verhältnis zu den anderen, wer sind die anderen im Verhältnis zu mir?“ Zumal im Abbild der jungen Frau alles passt und die Selbstinszenierung nahezu perfekt ausgelotet scheint. Allerdings erweisen sich für europäische Augen die Erkennungskategorien von me und I als unzureichend. Es bleibt vielmehr die Schwierigkeit, das Aneignungsmoment von westlich tradierten Subkulturen des Rock’n Roll, Teds, Skinhead und Punk durch japanische Jugendliche adäquat zu erkunden. Die andere Wahrheit ist wohl, dass das Portrait einen transkulturellen Identitätstransfer aufdeckt, bei dem der Code versagt.
Do it as perfect as possible heiße eine Grundmaxime der japanischen Jugend, sagt Oliver Sieber, der Keiko und andere Jugendliche 2006 in Osaka portraitiert hat. Dies sei ein generelleres Charakteristikum des japanischen Fashion Style, betont der 1966 geborene Photokünstler, der sich seit neun Jahren der Bilddokumentation von Jugendkulturen widmet und durch ein Stipendium des Goethe-Instituts kürzlich die Möglichkeit erhielt, in den japanischen Metropolen Szenejugendliche zu portraitieren. Er erzählt von ihrem starken Bemühen, eine Nische innerhalb der stark hierarchisch geprägten Gesellschaft Japans zu finden. „In Japan you can get everything (not only in fashion) and everybody seems to spend a latest model of any kind of product. Some of the people I met in concerts seemed to have verified every single detail of their outfit.” Hinter dem konsumbedingten Perfektionismus verberge sich eine durchaus defensive Haltung, glaubt er, die genauso kennzeichnend sei wie die Offenheit, sich global zu orientieren. Der Faktor Mehrdeutigkeit wird hierbei zum dominierenden Stilprinzip. Oliver Sieber hat seine Werkreihe konsequenterweise J-Subs genannt. „Der J-SUB ist ein kompakter, flugfähiger Basslautsprecher in einem direkt abstrahlenden Reflexgehäuse“, lautet eine Definition im Worldwideweb. Die Bezeichnung mag durchaus zutreffen, wenngleich ein Konzert der legendären englischen Punkrockband UK-Subs, die letztes Jahr in Osaka gastierte, den Photographen zur Namensgebung seiner jüngsten Portraitserie bewogen hat. So erinnert die Kürzel, ohne dass sie ihren Code preisgibt, letztlich daran, dass Subkulturen seit jeher ihre Identität in Musikströmungen zu finden wussten. Dass es auch der Sprache zu misstrauen gilt, wenn man sich Bilder der Jugend macht, weiß Sieber nur zu gut. So belegt er die einzelnen Bildtitel seiner Portraitserie mit minimalem Informationsgehalt, indem er lediglich die Vor- bzw. Künstlernamen der Dargestellten aufführt. King J, Chigu, Keiko, Akane, Fukatsu… Abermals bleibt die Erkennung auf halbem Wege stecken, weil die vorgebliche Intimität, die in den 48 Namen mitschwingt, mit der simplen Einsicht kollidiert, dass in der Anschauung eine Einschätzung der portraitierten Personen nicht möglich ist. In der Summe bedeuten die empathischen J-Subs Portraits von Oliver Sieber zunächst einen Crash, der die Konstruktion von Jugend als reine Projektionsfläche freilegt.
SkinsModsTeds
„YOUTH… forms an ideal projection surface for Utopias of dedifferentiation of all kinds. Whether young people are viewed with sexual or aesthetic interest, or as a generation to be educated and revolutionized, in any case, youth is understood as a resource whose property to regenerate itself again and again ensures that not very much has had to be changed for centuries in the social constructions of youth.” In jenem Schlachtfeld der Projektionen, wie dies der Bochumer Literatur- und Medienwissenschaftler Niels Werber mit Schärfe diagnostiziert hat, gelte es in einer Gesellschaft dann, alle zehn oder zwanzig Jahre eine neue Jugend zu begehren und zu erziehen, zu verbrauchen und zu benutzen.
Man merkt den Werkreihen von Oliver Sieber an, dass sie einem sensiblen Impuls folgen, auf der Anschauungsebene diese instrumentalisierenden und vereinnahmenden Projektionsflächen, die gesellschaftlich formuliert werden, zugunsten einer Befragung der einzelnen Persönlichkeit wieder zurückzudrängen. Bereits zur Jahrtausendwende realisierte er die Serie SkinsModsTeds, eine xx-teilige Portraitreihe von Jugendlichen der Retroszenen, die er in Deutschland und England antraf und in ihrem Erscheinungsbild an rebellierende Vorbilder der 50er bis 70er Jahre anschlossen. Die Bilderfolge ist ein irritierendes Déjà Vu und zeigt zugleich, dass bei den Betroffenen die polaren Denkstrukturen, die das Bild der Jugend prägen, längst komplexeren Strategien der Verortung Platz gemacht haben. Anpassung versus Rebellion, Image versus Identität. Individualität versus Uniformität heißen zwar immer noch die Bezugsgrößen, ihre Bewältigung folgt jedoch heutzutage anderen Motiven. Von dem Punk Mici etwa, der in Siebers Heimatstadt Düsseldorf lebt, berichtet der Photograph, dass er sich seinen Irokesenschnitt abrasieren ließ, als Mitte der 90er Jahre die Punkwelle Europa überspülte. Die Angst, plötzlich Mainstream zu werden, war allzu groß.
High School
So erzählen Bilder von Oliver Sieber vom Gegenreflex und nicht selten vom Versuch, eine geeignete Nische zu finden, um authentisch zu bleiben und im Jungsein zu überleben. Ein defensives wie melancholisches Grundmoment ist den Portraits nicht zufällig eigen. Als Bruststücke und Büsten nehmen sie auf eine aus der Malerei tradierte Form des Portraits Bezug, die vor einem einheitlich weiß gehaltenen Hintergrund den Fokus auf das einzelne Individuum legt. Konkret orientieren sich die Werkserien in der Bildanlage an die Tradition englischer und US-amerikanischer High-School-Bücher, die im Appendix aneinander gereihte Portraits der Jahrgangsabsolventen vereinen. Der Faktor Vergleichbarkeit ist ihnen mitgegeben. Allerdings betont Sieber, dass es ihm nicht, wie etwa seinerzeit August Sander in seinem epochalen Projekt Menschen des 20. Jahrhunderts, um eine typologische Zuordnung gehe. Das Konzept von Jugend war in der damaligen Zeit noch nicht ausgereift, der große Kölner Photograph beließ es bei vereinzelten Aufnahmen, etwa von Jungbauern. Heutzutage, im Zeitalter des me und I, müsse man den Blick sowieso wieder auf den einzelnen richten, ihm auch zuhören, so Sieber, die Frage bleibe schließlich bestehen: „Wer bin ich im Verhältnis zu den anderen, wer sind die anderen im Verhältnis zu mir?“
Nach seinen Vorlieben befragt, antwortet Oliver Sieber mit leichtem Zögern, dass er am liebsten leere Schreibhefte durchblättere. Er lächelt und fügt hinzu, dass weiße Blätter einfach gut tun würden.
Christoph Schaden