Diese wunderbare Aussicht

Diese wunderbate Aussicht by Martin Sokol
in: Katja Stuke/ Oliver Sieber, Citizen’s Handbook 2004

Wenn Menschen einen Beruf und ein Auto haben, wohnen sie gerne in Häusern mit Gärten und Garagen.Wenn diese Menschen dann später neue Menschen bekommen, blicken sie noch viel lieber ins Grün, ins Blaue oder ins Tal. Auf Hügeln wohnen ist schön, können sich aber nur die anderen leisten. Die, die Jeeps
fahren, Spargel essen und ihre Kinder durch Mobiltelefon erziehen.
Normalerweise ist das genau so. Nur hier, in dieser Stadt ist es genau umgekehrt. Was für ein Glück, das wir arm sind. Richtig nix haben, ist hier wunderbar. Je ärmer man ist, desto schöner wird die Aussicht. Die Wohnaussicht. Je weniger Geld man hat, desto besser wird sie. Ein Blick aus dem eigenen zu Hause, und
die ganze Welt liegt dir zu Füßen. Wir zum Beispiel, wir ziehen immer höher und blicken deshalb immer weiter. Die runden Granitfelsen auf denen wir wohnen stehen wie Kegel in der Landschaft. Wir blicken auf Häusermeere, auf andere Granitgipfel, auf steile Berghänge auf deren bizarren Felsvorsprüngen nur die armdicken Bambusstäbe Halt finden. Im müden Rhythmus streichen die heißen Winde durch die langen, spitzen Blätter. Um uns herum hat der Meeresspiegel großzügige Lagunen und bogenförmige Strände gelegt. Wie schwungvoll, wie erotisch, das erkennst Du nur von hier oben. Wenn man hier so ankommt wie wir, darf man sich einen Felsen aussuchen. Einen Felsen auf dem man wohnt. Ich hätte den mit der Seilbahn genommen, aber Vater wollte nicht in die erste Reihe. Die Kreuzfahrtschiffe die um sie herumfahren, ziehen nur unnötig die Polizei und andere Männer in Uniform an. Nicht das wir was zu verbergen hätten, wir haben nur kein Geld für die Polizei. Wir zogen zu einem Onkel meines Vaters. Der hockt schon seit zwei Jahren auf Fernandinha. Und weil der da schon ein luftiges Hüttchen direkt hinter der Igreja da Gloria hat, waren wir sofort in bester Nachbarschaft. Früher brandete das Wasser der Bucht fast direkt an
die Kirchenmauer von Santa Gloria. Doch dann, vor ungefähr hundert Jahren haben große Dampfbagger Sand aufgeschüttet. So viel, das heute, zwischen Kirche und Meer riesige Fußballplätze liegen. Es sind Staubplätze, aber sie sind ganz flach. Ich meine eben, ohne Löcher und Hügel. Die Fußballplätze sind
richtig groß. So groß wie im Fernsehen. Es gibt sogar kleine Tribünen. Eigentlich ist alles da unten ein grüner Park. Nur im Sommer wird der Rasen braun und die Wellenmuster der Gehwege sind versandet undschmierig von den Schlammlawinen der Oberstadt. Teilweise wohnen im Park auch Menschen, Familien. Dann kommt die Polizei und verjagt die, die neu sind und nicht wissen wie man der Polizei einen Gefallentun kann. Sie sagen dann, dass Menschen nicht in Parkanlagen wohnen dürfen. Einige ziehen dann wieder weiter, herauf auf die Berge, einige zu uns. Aber man braucht auch ein bisschen Beziehung, um zu uns zukommen. Die Menschen im Park haben keine mehr, oder noch nicht.
Ich gehe nur einmal die Woche zu den Fußballplätzen, die in diesem Park liegen. Immer Samstag sitzen dort Männer aus Europa: aus Barcelona, London, Mailand und München. So sagen sie. Ich habe selber auch schon welche gesprochen. Man erkennt sie an den Schreibblöcken, den Videokameras und den dunklen
Sonnenbrillen unter ihren großen, weißen Panamahüten. Viele, ich meine viel von uns hier oben, sind schon weggekommen. Sie leben jetzt in Europa. In prächtigen Villen mit grünem Rasen und großen Gärten. Es soll dort sehr flach sein und wenn schon ein Berg da ist, wohnen nur die Reichen drauf.
Ist eben genau umgekehrt wie hier, bei uns. Dafür fährt man Mercedes oder Audi. Damit kommt maschneller nach oben, viel schneller als zu Fuß. Man hat dann alles. Berge mit Aussicht, flache Plätze undgroße Autos um hin und her zu fahren. Europa ist in allem besser. Besser als Amerika, wo man nur hin
geht, wenn man alt ist. Ich bin jung und Europa braucht mich. Die Männer von den Tribünen wissen das. Sie bringen uns dahin. Letztes Jahr war ein gutes Jahr. Sieben Freunde sind weggegangen. Ich habe nur vergessen welche Weißen es waren, die sie mitgenommen haben. Europa ist wie Zona Azul, wie der
Supermarkt mit dem roten Herzen auf den weißen Plastiktüten – der, der immer auf hat und nie stinkt.
Gut, in Europa müssen wir anders über den Platz rennen. In Europa spielt man aufgeteilter. Die Raumaufteilung ist hinten enger. Niemals wollen sie Tore kassieren. Stehen hinten wie eine Mauer. In Europa gibt es Grenzen, die
man so nicht sieht aber sie sind da. Dort hat jeder Spieler sein eigenes Revier auf dem Platz. Wenn ich dann alle Gegenspieler in meinem Bereich ausgetrickst habe, spiele ich den Ball an den nächsten weiter, der muss dann wieder in seinem Revier alle kaltstellen. Und dann wieder weitergeben. Und dann immer so weiter, bis das Ding im Kasten zappelt oder wieder in der Wand des Gegners steckenbleibt. Das muss man ertragen lernen.
Das abgeben und das alle nur Teil einer exakten Maschine sind. Aber das sind Kleinigkeiten. Wesentlich ist, das mir der Ball am Fuß klebt. Ich kann mit ihm überall hin. Er verlässt mich nicht und ich ihn nicht. Wir bleiben
zusammen.