Berlin/Lörick

Gabriele Conrath-Scholl, Text in Anlehnung an die Einführung zur Ausstellung, gehalten am 12. März 2004, Galerie Gaby Kraushaar, Düsseldorf)

Einem anderen, wenn auch verwandten Wahrnehmungsmodell folgt Oliver Siebers Arbeit, die zwei analog angelegte Werkkomplexe umfaßt. Ausgehend von zwei unterschiedlichen Wohnsystemen, einem hochhausähnlichen Wohnblock in Berlin, nähe Alexanderplatz, und einer Wohnsiedlung mit Einfamilienhäusern in Düsseldorf-Lörick, zeigt er uns neben den jeweiligen Architekturbildern Portraitreihen verschiedener Bewohner, die alle im Jahre 2002 entstanden sind.
Wie schon in vorhergehenden Projekten von Sieber – man denke etwa an die thematisch angelegten Portraitgruppen der Blinden, an die der erwähnten Fußballspielerinnen oder die der Skinsmodsteds – betreibt Oliver Sieber seine Arbeit auch hier auf Grundlage eines konsequent abgesteckten Konzepts. Die ihn antreibende Kraft ist sein unermüdliches Interesse am Menschen und dessen Lebensumständen, die er in methodisch abgezirkelten Serien umzusetzen sucht.
Die den verschiedenen Wohnformen zugeordneten Portraits unterscheiden sich auf den ersten Blick nur wenig von den früher erarbeiteten Bildnissen Siebers: Auch für die Portraits der Großstädter wählt er den relativ engen Ausschnitt des Kopf- oder Büstenbildes, der uns an Passbilder erinnert. Auch hier geben sich seine „Modelle“ meisthin am Kameraobjektiv vorbeischauend relativ frontal oder in leichter Drehung zur Kamera.
Anders ist jedoch, daß die Personen nun nicht mehr vor einem hellen Hintergrund, sondern vor einem scheinbar schwarzen Fond stehen. Dies allein bewirkt die für die ausgestellten Aufnahmen neu eingesetzte Blitztechnik, die den vorgefundenen Umraum sozusagen vollkommen abschattet und zugleich die Modulation der Gesichter unterstreicht. In dieser Weise formieren sich die Abgebildete gleichfalls zu einer homogenen Gruppe, die durch die Zuordnung zu den jeweiligen Wohnsystemen wieder an Unterscheidung gewinnt.
Zudem erweist sich der dunkle Fond eine bühnenhafte Kulisse, die sich mit den vor nächtlichem Himmel aufgenommenen Architekturen trifft. Bei aller Detailschärfe der Photographien von Sieber – die vor allem auch auf die Verwendung einer Großbildkamera zurückgeht – verweist dies auf das ambivalente Verhältnis der Bilder zur Realität.
Einerseits werden uns Menschen unterschiedlicher Herkunft und Generationen konkret vor Augen geführt – Oliver Sieber weiß viele Geschichten über sie zu erzählen, wie etwa die des im Berliner Wohnblock angetroffenen, aus der ehemaligen DDR stammenden Professors für Raumfahrtechnik, der jede kleinparzellisiertere Form des Wohnens als unsozial ablehnt oder die einer Familie, die mit drei Generationen und Au-pair-Mädchen in einem der Löricker Einfamilienhäuser wohnt. Andererseits haben Siebers Bildkompositionen modellhaften Charakter, sind aufgrund der verwendeten bildnerischen Mittel darauf ausgelegt, die Portraits in beschriebener Weise zu stilisieren.
Wie Katja Stuke sucht auch Oliver Sieber nach der Geschichte der Menschen, nach deren Gegenwart und Zukunft, nach Antworten auf Fragen, die er selbst wie folgt formuliert: „Wie unterscheiden sich die Menschen, die in den unterschiedlichen Wohnmodellen leben; unterscheiden sie sich überhaupt? Wie denken die Menschen über ihre Wohnsituation? Leben sie zufällig dort, oder haben sie sich bewußt für ihre Situation entschieden und aus welchen Gründen?“
Die Auskünfte, die man darauf erhalten mag, sind vermutlich so vielseitig, wie es Lebensläufe, Wohnarchitekturen und -einrichtungen gibt. Eine dieser Auskünfte liegt in schriftlicher Form vor. Und zwar handelt es sich dabei um eine Passage von Martin Sokol, der die Texte für das von Katja Stuke und Oliver Sieber gestaltete Künstlerbuch zur Ausstellung mit dem Titel Citizen‘s Handbook (Schaden Verlag, Köln) verfaßt hat.
Martin Sokol bindet in literarischer Weise an die gezeigten Photographien an, greift ihre Atmosphäre auf, schafft Metaphern, die eigene Erinnerungen wachrufen und auf Entwicklungen hinweisen, um die man wohl weiß, vielleicht aber nur wenig noch darüber nachdenkt.
Martin Sokol: „Alles beschleunigte sich, als die Flüchtlinge endlich Geld hatten, um sich von den engen Mietwohnungen zu befreien. Halb Deutschland zog in ein eigenes Haus oder zumindest in neue, geräumige Hochhäuser. In Wohntürme mit Fahrstuhl, Müllschacht und breiten Balkons. Überall wuchsen die Heimatidyllen aus den nebligen Flusslandschaften. Hochhäuser mit Reihenhäusern oder Hochhäuser mit Garagenzeilen. In dieser mit Sandsteinen verklinkerten Welt sprang jeder Neubewohner ein kleines Stückchen höher auf der sozialen Leiter. Aus Flüchtlingen wurden Eigenheimbesitzer, aus Proletariern wurden Angestellte und aus Kriegern wurden Väter. Die Arbeiter wohnten in 10stöckigen Hochhäusern, die damals noch Flachdächer aus Eternit hatten. Die Angestellten wohnten in 5stöckigen Hochhäusern mit Fahrstuhl. Die Ehrgeizigen wohnten in schmalen Reihenhäusern, die sich wie Kühlrippen um die neuen Hochhäuser wanden. Die Kleinkinder spielten in riesigen Sandkästen, die Mütter in mickrigen Vorgärten und die Väter in dunklen Garagen.“